Charlotte Praetorius
Stiftung Universität Hildesheim
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Charlotte Praetorius: Chronologie der Unstimmigkeit – Zu Radu Judes Die tote Nation
Der Vortrag diskutiert Praktiken der filmischen Aneignung von fotografischem (Archiv-)Material am Beispiel des Dokumentarfilms Die tote Nation (2017) von Radu Jude. Während die Kamera es uns erlaubt, den Blick über die vor schwarzem Hintergrund angeordneten Fotos aus dem Archiv des rumänischen Fotografen Costică Acsinte schweifen zu lassen, sind aus dem Off abwechselnd propagandistische Reden, Volkslieder und Tagebucheinträge des jüdischen Arztes Emil Dorian aus Bukarest zu hören. Die Aufnahmen zeigen einen Querschnitt durch das Leben der ländlichen Bevölkerung Rumäniens in den 1930er und 1940er Jahren. Doch die zufriedenen, stolzen oder gar fröhlichen Blicke in die Kamera stehen im Kontrast zu den aus dem Off zu hörenden Berichten über Pogrome, Exekutionen und Deportationen, denen zur gleichen Zeit im gleichen Land die jüdische Bevölkerung ausgesetzt war. Wie verändert sich der Blick auf die Fotos durch die Präsenz dieser Tonspur? Und wie macht der Film sichtbar, was die historischen Fotos nicht abbilden?
Charlotte Praetorius ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Stiftung Universität Hildesheim. Nach ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Romanistik in Frankfurt am Main und Lissabon war sie für verschiedene Filmfestivals, unter anderem die Berlinale (Sektion Forum) und die Kurzfilmtage Oberhausen tätig. Ihre vor Kurzem fertiggestellte Dissertation, die unter anderem mit Stipendien der DFG und der Universität Hildesheim gefördert wurde, befasst sich mit der Aneignung, Verwendung und Inszenierung gefundener fotografischer Materialien („Found Photos“) im zeitgenössischen Essay- und Dokumentarfilm.